Die Türkei

Poststempel Istanbul
Istanbul, Dienst. 8.3.55

Liebste Mimi!
Die 4. Etappe auf der Hinreise hätten wir glücklich erreicht. Hier will Max 2 Tage bleiben. Gesehen habe ich v. dieser großen Stadt noch nichts, weil wir gestern nachts einfuhren u. ich gleich vorm. zu schreiben beginne.
Du wirst’s vielleicht seltsam finden, daß Du so wenig Post bekommst, aber durch die seltsamen Postverbindungen lohnt es sich erst von hier aus per Flugpost zu schreiben. Von Jugoslav. u. von Saloniki aus geht die Flugpost zuerst nach Athen. Ein Umweg. Von Belgrad schrieb ich Dir einen Brief, von Skopje Bambi 1 Karte u. v. Saloniki Dir eine Karte. Ich hoffe, daß wenigstens dies angekommen ist. – Und womit soll ich heute beginnen?
Es geht alles so ziemlich gehetzt vor sich u. auf schlechten Straßen, daß wir abends immer hundsmüde ins Bett sinken. Ich hoffe sehr, daß es ab Istanbul geruhsamer wird. Manchmal habe ich mir gedacht, das solltest Du sehen, aber der Großteil der Reise wäre bis jetzt für Dich nicht erfreulich gewesen. – Also:
Ab Belgrad wollten wir auf die Bahn verladen, weil die Wetterprognosen schlecht waren u. die Auskünfte über die Straßenverhältnisse schlecht u. verschieden waren. Gestimmt hat bis jetzt kaum etwas. Es ist meistens so wie Max sagte: wo man Schwierigkeiten erwartet, sind keine, u. umgekehrt. – In Belgrad schien wirklich die Sonne als wir uns entschlossen, doch mit d. Auto weiterzufahren u. 100 km gings auch halbwegs gut, aber dann begannen wieder die Schneewechten u. Schneestürme. Die Landschaft nach Belgrad ist sehr schön, aber das einbrechende schlechte Wetter nahm uns wieder die Aussicht. Um 4h nachm. wars aus. Schneesturm eisig kalt, u. wir mußten mitten auf einem steilen Hang die Schneeketten montieren! Dann gings wieder. (Von Kragujevac nach Lapovo Richtung Niš.) In Lapovo war schon tiefe Nacht, aber die Straße war schneefrei u. staubig (!), u. Max fuhr weiter. Es ging gut. Um 8h abends waren wir in Nisch. Dreck und Eis – gefroren – hing am ganzen Wagen. (Ernst kann sich das sicher gut vorstellen, aber unvorstellbar für einen gewöhnlichen Sterblichen.) In Nisch aßen wir vorzüglich; die serbische Küche ist überall ausgezeichnet u. billig. Wir nahmen in einem staatlichen Hotel – in Jugosl. gibts nur staatl. Hotels – ein Einbettzimmer, primitiv + schäbig + ohne Handtuch u.s.w., aber ohne Wanzen, u. schlugen unser Klappbett daneben auf. Es ging sehr gut.
Über diese staatl. Einrichtungen könnte man viel schreiben, doch davon mündlich. Nur: Beim Portier steht meistens ein bissiger Kommissar, der sehr amtlich tut. Ein bißl SS Manieren. Machthunger! Arm ist dieses Land. Entsetzlich. Aber Tanks u. Flugzeuge u. überall Militär!! Armselig sind die Menschen angezogen, aber die Offiziere stolzieren wie die Hähne u. sind blendend u. elegant gekleidet!! Widerlich.
Die Menschen wie überall in Jugosl. sehr freundlich, wie schon geschrieben. Mazedonien ist schon sehr türkisch, muslemisch beeinflußt. Minaretts u. teilweise türk. Kleidung. Bunt u. sehr schöne Trachten, die man auch werktags sieht. Ein schöner Menschenschlag. In der Früh wurde der Wagen von uns enteist. Auf d. Hauptplatz. Massen v. Menschen, denn es verirrt sich kaum ein privater Wagen in diese Gegend. Und noch dazu ein solcher mit Fotos. Wien u. Tirol (wegen der Skifahrer) ist überall bekannt. Dann weiter Richtung Skopje, die Hauptstadt Mazedoniens. Schnee, Glatteis, Schluchten. Romantische Landschaft u. Schafe, Schafe, Schafe. Die Bahn fährt ungefähr dieselbe Strecke u. wir waren froh, daß wir nicht verladen hatten. Wir wären sicher 1 Woche später nach Saloniki gekommen. Die Umständlichkeit einer diktatorischen Behörde ist bekannt. Es ging alles gut bis 12h mittags. Vor uns war ein Erdrutsch heruntergegangen, u. mitten drin stak ein schwerbeladener Lastwagen bis zu den Achsen im Dreck! Obwohl ca. 20 Arbeiter dran herumtaten, gings nicht weiter. Ein eisiger Schneesturm setzte ein.

Wir hatten alle Hoffnung aufgegeben, an diesem Tag noch weiterzukommen. Max versuchte den Chauffeur des Wagens zu bereden, das Holz, das er geladen hatte, abzulegen, aber nein: Er wollte das Holz, große Balken, nicht beschmutzen!! Dafür hielt er den gesamten Verkehr auf! Wir waren ja auf der Hauptstraße №1!! Aber bezeichnend f. d. Verkehr: 5 Stunden standen wir auf dieser Hauptstraße u. hinter uns war nur 1 Lastwagen noch aufgetaucht, der uns sofort anbot, uns durch den Dreck zu ziehen. Ein einziger griechischer Privatwagen kehrte bald um als er das Malheur sah. Aber nach 5 Stunden kam der Laster doch durch den Dreck u. nun war das Problem, wie wir durchkommen sollten. Unser Freund fuhr voraus um uns ev. durchzuziehen. Ich glaubte nicht daran. Es wär auch kaum gegangen. Wir stiegen ein u. Max startete, die Strecke ging ziemlich steil abwärts. Und ehe ichs erfassen konnte, gab Max Vollgas u. stürzte sich mitten in den Dreck hinunter. Es krachte, daß ich glaubte, der Wagen ginge in Trümmer, denn im Dreck staken ja riesige Steine (von der Mur.) – u. wir waren durch! Den Arbeitern u. d. anderen Chauffeuren blieb der Mund offen stehen. Dann beglückwünschten sie uns u. waren sofort besorgt, ob dem Wagen etwas passiert sei. Nichts! Es war einfach unfaßbar, daß nur beim Vorderrad ein Tepscher war u. das linke Rad einen kleinen Achter zeigte. Wir waren sehr froh darüber – so ein VW hält einfach unheimlich viel aus. Ich glaube, jeder andere Wagen wäre schon 2 od. 3 x in Trümmer gegangen. Dieses Ereignis tauften wir „den Sprung vom Dzep“. (1. „Der Kampf um Varasdin“.) Das dritte kommt später.
Ohne Schwierigkeit gings weiter nach Skopje, das wir 815 erreichten. Wieder staatl. Hotel mit Klappbett u. gutes Essen. Diese Stadt ist sehr schön. Universitätsstadt. Der Kommissar beim Portier wollte uns zerst nicht aufnehmen, weil unser Transitvisum abgelaufen sei. Wir hätten nachts noch zur Grenze weiter fahren sollen! Idiot. Wir brachten ihm auf Französisch bei, daß die Straßenverhältnisse so hundsmiserabel seien u. Max setzte sein böses Gesicht auf (– Journalisten sind immer ein bißl gefürchtet) u. forderte ihn auf, den Polizeichef anzurufen, denn der müßte ja wissen, daß bei Dzep ein Erdrutsch herunterging. Er rief an, u. es ging. Bögen ausfüllen, Essen u. ins Bett. In der Früh enteisen. Mindestens 100 kg Schnee + Dreck, gefroren, schlugen wir herunter. Was wir alles mitschleppten! Hilfsbereite Menschen wie immer. Von der Stadt sahen wir nicht mehr viel, wir mußten weiter. Ja, vorher wollten wir uns von dem Polizeichef eine Bestätigung unserer unverschuldeten Verzögerung [holen]. Das war nicht so einfach.
Hin zum Bonzenpalast. Wie überall protzig + schrecklich. Stiegen u. Stufen hinauf. Vorhalle. Die Beamten konnten keine Sprache. Wir sollten warten. Chef kommt erst um 10h! Nein. Wir wollen gleich hinauf. Journalist! Sie führten uns! Wie im Film! Treppe hinauf – Gänge – Titobilder – wie bei d. Gestapo. Vorzimmer warten. Die Pässe wurden uns abgenommen u. wir warteten ¼h. Max wurde es zu blöd – wir blödelten im Vorzimmer – u. klopfte frecherweise an. Ein Bonze kam u. sagte, unsere Behauptung, daß wir im Hotel Balkan abgestiegen seien, sei unwahr.
Ich hatte natürlich den Namen verwechselt. Mazedonien hieß es. Aber dann gings. Kein Wort verstand er, keines wir. Nur deuten. Zeichensprache. Ab zur griechischen Grenze um 1200. Schnee. Glatteis, Wechten, aber schön angelegte Straße. Kurven. Um 1h hatten wir glücklich die Grenze erreicht. Unsympathisch die Soldaten und Beamten. Scharf auf Geldkontrolle. Max überzog sie trotzdem. Er ist sehr erfinderisch. – Die griechische Kontrolle war ganz anders. Gleich freundliche Begrüßung, der Form halber wird nachgeschaut. Eine ganz andere Stimmung. Seltsam. Aber man fühlte sich wieder europäischer.

Foto mit Zollbeamten, u. ab in Richtung Saloniki.
Wie eine Hochebene sah die Landschaft aus, aber wir fuhren fast im Tal. Dadurch, daß kein Baum zu sehen war u. nur Schafe, Schnee u. Grasflecken u. Schneewechten, hatte man den Eindruck eines Almbodens. Dann kam endlich (!) eine schöne Asphaltdecke bis Saloniki. Diese Erlösung. Aber trotzdem zogen sich die Schneewechten noch bis 10 km vor Sakoliki. Aber weiche. Die Gegend war schon milder u. manchmal blühte schon ein Kirschbaum. Es wurde langsam Frühling. Um 18h in Saloniki. Saukalt! Eisiger Wind. Die Uhr 1h vorstellen. Besuch beim Shell-Benzinchef – Hotel (mit Klappbett), Essen (schon teurer), Bummel durch die Hauptstraße – um 10h ins Bett. Hundemüde. –
Weiß nicht, ob ich weiterschreiben kann. Besuch beim Generalkonsul in Istanbul steht bevor. Umziehen.

Bussl D. Helmut

Vielleicht gehen noch ein paar Zeilen. Kannst Dus überhaupt lesen? Ich bin so in Eile.
Saloniki – der Unterschied zur Jugoslawien-Diktatur – u. ein freier Staat. Die Auslagen voll, Betrieb auf der Straße, gut angezogene Menschen, Autos u.s.w. In Jugos. haben nur die Polit-Bonzen u. Militär Autos. Von Agram nach Belgrad begegneten wir ganze 5 Personenwagen, alles Polit. Und einige Lastwagen. So alle 50 km einen, wenns gut ging. Hier wars gleich ganz anders. –
Am Sonntag vorm. Besuch beim Shell-Chef. 90 Liter Benzin gratis! Stadtbesichtigung. Militärfriedhof 26.000 Tote. Wahnsinn. (Kein Kreuz bei den deutschen Soldaten, aber im Buch namentlich eingetragen. Von Walter konnte ich in Belgrad auch nichts erfahren.) Saloniki – Hafenstadt – schlechtes Wetter. Eine schöne gigantische Kirche. Max drängte weiter, weil wir noch ganz andere Dinge sehen würden. Hat sicher Recht. Blühende Kirschbäume – riesige Seen, schöne Landschaft, Schafe – Ziegenherden, schöne Mädchen. Auch in Saloniki. Richtung Konstantinopolis. Eine scheußliche Stadt am Meer, u. nicht sehr frdl. Menschen. Wir fahren in einen Privathof u. wir dürfen dort nicht parken. Das 1. x wollen wir im Auto schlafen. Flaga-Propangasheizung. Schlecht geschlafen. Ohne Heizung zu kalt u. mit: zuwenig Sauerstoff! Ziemlich erschlagen fahren wir schon um 7h los. Teilweise dem Meer entlang – Schön. Durch Moore führt die Straße. Seeadler u. weiße [Bleistift:] Reiher. (Die Tinte ist aus, obwohl ich nicht mehr als 2 Briefe geschrieben hab!) Weiße Pappeln u. massenhaft Weiden stehen im Wasser. Und dann kam die „schlechteste Straße der Welt“, wie sie Max Reisch bezeichnet. Unvorstellbar!! Im Kilometertempo geht’s nur vorwärts! 60 km lang. Eine Marter für Mensch u. Wagen. Die ist einfach mit Absicht so gemacht. Es ist nicht zu glauben, daß wir hier sitzen in Istanbul. Dabei war glücklicherweise der Untergrund noch gefroren. Bei Regen oder aufgeweichter Straße passiert kein Auto diese Hölle! Nur Löcher u. Dreck. Max hängt plötzlich mit 1 Rad in der Luft. Ich war ausgestiegen um zu dirigieren. Zu Fuß kommt man schneller weiter. Dort fahren auch nur mehr Bauernwagen. Neben der Straße.
Dann kein Wegweiser mehr. Wir fahren, aber mir kommt die Richtung falsch vor. Max hat den Kompaß vergessen. Wir fragen einen Bauern. Nicht zu verständigen. Endlich: Falsche Richtung! Wir wären nach Bulgarien hinein gefahren statt nach EDIRNE (Türkei)!! Der Bauer führt uns zurück. Er steigt ein. Zu weit gefahren, bei dieser Straße!! Zurück. Max versucht den Löchern auszuweichen, sinkt in den mit Wasser gefüllten Graben neben der Straße u. steckt. Ich habe ihn schon vorher ein paarmal gewarnt. Lieber Löcher in Kauf zu nehmen als im Letten hängen zu bleiben. Jeder Versuch zwecklos. Immer tiefer sinkt der Wagen ein. Es ist schon 3h nachm. Ich wühle mit den Händen, lege Steine unter. Zwecklos. Wir winken einem Bauernwagen (Pferde!) Er kommt nicht. Weit u. breit kein Haus. Ein Bauer kommt mit einem vollbepackten Wagen, 2 Pferde. Die Pferde scheuen schon vor dem blauen Wagen. Autos nie gesehen. Der Bauer will nicht. Wir sollten nach EDIRNE einen Raupenschlepper holen. 15 Min. sagen sie? (Diese 15 Min. stellten sich – zu Fuß – als 3 Stunden heraus. Er zeigte auf die Uhr von 12 – 3. Dies kann ¼ h od. 3 h sein. Und so wars dann.) Letzter Versuch mit der Sandleiter. Herausmontieren, unterlegen. Das Rad dreht sich im Dreck. Noch ein freundl. Bauer kommt – Max gibt Gas, ich stehe im Dreckregen, schieb die Leiter ans Rad – drunter geht’s nicht – aber durch die Drehung erreicht das Rad endlich einen Stab der Leiter – greift – wir schieben noch alle mit – ein Wunder, wir habens geschafft. Die Reisch’sche Sandleiter hat uns gerettet. Ich glaube, wir hätten sonst mindestens noch 2 Tage verloren. Eine gottverlassene Gegend!! Hamdullillah!!
Dies war der 3. „Skandal von Edirne“. (Skandal auf die Straßenverhältnisse bezogen.) Reisch hatte Recht. „Die schlechteste Straße der Welt“. Edirne war wirklich noch 3 Gehstunden vom Tatort entfernt! Um 5h erreichten wir die türkische Grenze.
Freundliche Menschen u. schöne Straßen. Edirne ist eine prächtige Stadt (Studentenmetropole) mit einer herrlichen Moschee. Der Orient beginnt. Leider sind wir sehr spät dran u. wollen noch Istanbul erreichen! Wir versuchens. Asphalt. Leider schlechter Asphalt, aber wir glücklich, endlich so etwas unter den Rädern zu haben. 530 u. noch 260 km! Max schafft. Gerade Straßen. Eine öde Landschaft, die man eh am besten bei Nacht fährt. Trostlos. Um ½10h leuchten die Lichter von Istanbul, eine riesige Ausdehnung, u. um 10 fahren wir ein – Max findet sein altes Hotel wieder – wie ein Taxler fährt er – u. wir sinken um ½11h verzichtend aufs Essen – mittags auch nichts – (Norberts Salami reichte bis hierher!! u. Ernsts Schnaps auch, bitte sag dies mit Dank) – todmüde ins Bett. Höllischer Straßenlärm weckt uns um 7h früh. Orientalisch laut. Rituelle Waschung – eine Orange zum Frühstück – Max ist in die VW Garage den Wagen kontrollieren – noch nicht zurück. Es ist ½11h. Seit dem schreib ich. Jetzt kommt er. Nachmittag geh ich zeichnen. Wir wollen den 1. Bericht hier schreiben. Wenns geht.
Liebste, ich denke viel an Dich u. an d. Kinder. Keine Ahnung, wo Du bist, bei Lo vielleicht schon? Hoffe Euch alle gesund u. guter Dinge. Grüß bitte Eltern usw. Pümpel… + Elsbeth… Viele Bussln Dir + d. Kindern

D. Helmut

Ich wollte vor allem viel schreiben, weil ich nicht weiß, wann wir wieder Zeit haben. Aber ich glaube, es wird geruhsamer. Und viel zeichnen möchte ich von nun an. Hab nur 1 gemacht bis jetzt, übermorgen übers „goldene Horn“ nach Ankara
U H D S U L
u. keine Sorge
2.600 km (von Innsbruck aus) ohne Panne!

Herrliche Aussicht vom Balkon unseres Zimmers auf einen Teil des Hafens u. Moscheen. Allerdings mit Swarowski-Optik! Der zaht herrlich herbei (10×40). Wundervolle Architektur!
Entschuldige die miserable Schrift, bitte


Poststempel Istanbul
Istanbul, 9.3.55

Liebste Mimi!
Wo trifft Dich dieser Brief? Bist Du schon bei Ohlers? 14 Tage bin ich schon von Euch weg u. keine Nachricht. Aber in Ankara werde ich alles erfahren. Ich hab mich geirrt. Max gab Dir ja als 1. Adresse Ankara u. nicht Istanbul. – Ich liege auf dem Bett im Hotel „Sehir Palas“, in dem sonst nur Türken absteigen, daher spricht hier niemand auch nur 1 Wort einer anderen Sprache. Dafür ist’s billiger. Max hat schon einmal hier gewohnt, sonst hätten wir das Appartmang nicht bekommen. – Istanbul ist eine zauberhafte Stadt u. sehr schön. Ein wirkliches Tor zum Orient, am „goldenen Horn“. Imposant der Hafen mit den zahlreichen Schiffen.

Vom kleinsten Boot bis zum Ozeanriesen u. Flugzeugträger (amerik.). Ein Gewuzel, ein Lärm, entsetzlich viele Autos, enge Gassen, holprige Straßen, viele Menschen, armselige Erdlöcher wo noch Menschen hausen u. moderne Wohnbauten. Sommerliche Temperaturen! Fast zu plötzlich nach so viel Schnee. Warm + dunstig. (Gott sei Dank kein Regen.) Zu den Fremden sind die Türken außerordentlich freundlich, manchmal rührend. Einmal hielt einer den ganzen Verkehr auf einem Hauptplatz auf, kam zu uns u. lotste uns persönlich durch. Wir wussten zuerst nicht, was er wollte. Dies noch dazu bei Max, der ein großartiger Chauffeur ist u., wie schon gesagt, wie ein Taxler fährt. – Die Taxler sind übrigens hier ein eigenes Kapitel. Sie fahren wie die Straßenbahnen. Es ist ein einziges Aus + Einsteigen. Billig u. lauter elegante Ami-Wagen, die solange gefahren werden bis sie zusammenfallen. Jede Reparaturwerkstätte ist überfüllt, u. überall sieht man Autofriedhöfe. – Shell spendierte wieder 200 L Benzin! (100 L schon in Saloniki!) Damit kommen wir wieder gratis durch die Türkei! Max ist sehr tüchtig. Gestern nachm. Empfang beim Generalkonsul (komischer Mensch) u. abends waren wir bei einem Ehepaar eingeladen. Den Mann, ein Libanese, lernte ich auf der Straße kennen, als Max bei Shell war, u. [der] den Weg mit seinem Wagen versperrte. Seine Frau sei sehr schön u. reizend (reizend stimmte, aber schön nicht.) u. studiert an der Kunstakademie hier. Er schleppte mich in sein Büro (Elektro-Vertretung, Siemens, Elin u.s.w.), u. ich mußte sofort mit seiner Frau telefonieren. Perfekt deutsch spricht sie. Fast ohne Akzent. Sie ist Türkin. Er ist nett aber dumm, sie sehr gescheit u. von empirischer Problematik. Eine Tochter mit 14 Jahren, 20 Jahre verheiratet; die Tochter studiert in Ankara. Nun ist sie ganz allein u. malt aus Langweile. Lauter Türken als Mal-Professoren, die bei André Lhote in Paris studierten. Die ganze türk. Kunst ist franz. beeinflußt. „Wo sollen wir denn sonst anfangen?“ Keine Tradition u. Bilder + Plastik, waren ja bei den Moslems verboten. Kemal Pascha hat wirklich, vielleicht leider, die Europäisierung der Türkei begonnen. Jetzt ist diese Umstellung noch im Gang. –
Sie weiß nicht, „wozu sie auf der Welt ist“, Weltschmerz, „keine große Künstlerin wird sie werden“, u.s.w. Sehr belesen. Kennt Kokoschka u.a.; übersetzt kunstgeschichtliche Artikel ins türkische, spricht noch perfekt französisch u. griechisch. Ein Sprachphänomen. Es soll viele solche hier geben. Sie lernte hier im österr. Lyzeum, die einzige österr. Auslandsschule. Dort waren wir heute zu Mittag eingeladen. 150 im Pensionat + 600 Schüler. Was die leisten. Die Lehrer reden sich mit Bruder an. Teilweise Geistliche. Es erinnert mich an die Fügener Kapuziner. Der Chef, der „Superior“, ein vielleicht 30 jähr. Steirer. Sehr nett. Am Tisch saß noch ein 92! jähr. Lehrer. Geistig + körperlich ganz frisch u. zu Späßen bereit. – Einige Zeichnungen habe ich gemacht. Nicht sehr gut. Werd aber schon hinein kommen. – Von hier aus wollen wir den 1. Bericht bringen, aber Max ist den ganzen Tag unterwegs. Reportagen + Interviews. Jetzt befragt er gerade den M. Meinecke, der hier am türk. Theater Regisseur ist. Ich bin nicht mitgegangen. – Die Visas für Libanon + Syrien haben wir bekommen, obwohl ich keinen Geburtsschein (lies Ariernachweis) habe. Juden kriegen kein Visum. (Max ist katholisch!) Max schupft einfach alles. Nachm. ist er noch im türk. Rundfunk u. macht Aufnahmen v. klassisch. türkischer Musik. Ich mach derweil Punkt. An Hand dieser Briefe u. des Kalenders, in den ich jeden Tag hineinschreibe, erinnere ich mich dann sicher wieder. Alles kann ich leider nicht niederschreiben. Ist eh ein fader Brief, gelt. Istanbul wäre schön mit Dir zu erleben.

IHDSSL D. Helmut

Bussln d. Kindern u. vergiß nicht, Ihnen einiges aus den Briefen vorzulesen.


Poststempel Österreich 18.3.55
Stempel: Verspätet zugestellt weil Anschrift unrichtig/unvollständig. Wir bitten, dem Absender die genaue Anschrift mitzuteilen.
Ankara, 11.3.55

Liebste Mimi!
Es war eine große, freudige Überraschung, gleich 2 Briefe von Dir zu kriegen! (Max bekam leider keine Zeile.) Am 5.3. traf der 1. ein. 3 Tage dauert also die Luftpost von Ibk bis Ankara. Ich hoffe, daß Dich diese Post in Bielefeld erreicht u. daß Du die anderen Briefe erhalten hast. 1 aus Belgrad u. 2 aus Istanbul, meines Erinnerns. Dazwischen Karten.
Wie Du siehst, sitzen wir bereits in Ankara, u. wenn Du diese schwer zu entziffernden Zeilen liest, sind wir wieder einige hundert Kilometer weiter, vermutlich in Bagdad. Aber nicht sicher; denn Aleppo (Syrien) soll so schön sein, sagte der Gesandte v. Ankara, daß ein Maler einige Tage bleiben müßte. Die Reise wird immer interessanter u. Gott sei Dank wärmer. Istanbul war bis jetzt der Höhepunkt. Eine unglaublich lebendige, interessante u. schöne Stadt, in der man sich mindestens 10 Tage aufhalten müßte, um nur den leisesten Eindruck zu haben. Eine Menge von Moscheen, wovon die so berühmte Hagja Sophia bei weitem nicht die schönste ist. Meines Erachtens. Die Türken sagen dazu Aya Sophia; seitdem ist unser Leitlied: „Aja, Sophia my darling“ nach dem berühmten „Vaya con Dios …“ Wir blödeln viel. Es gäbe von Istanbul so viel zu erzählen, dabei kenne ich es kaum. Allein der Fisch-Basar. Ich fand zufällig hinein. Aber viel zu spät u. am letzten Tag war auch schlechtes Wetter. Ich führte Max, der doch kaum zu solchen Dingen kommt, dorthin, u. er war ganz weg u. wollte bleiben. Er konnte aber nicht, denn wir müssen weiter. Max machte mit Max Meineke ein Tonband-Interview. Ich war nicht dabei: „Ich stehe allen 3 Theatern in Istanbul vor…“ diesen Satz piefkinesisch zu hören u. man weiß fast alles. Abends war ich mit Max auf Einladung Meineckes in 2 Theatern; jeweils einen Akt sahen wir uns an. Ich erzählte vorher Max ungefähr die Situation u. sagte ihm, er möge nicht verraten, wer sein Mitfahrer sei. Meinecke erkannte mich nicht!! Ich ihn sofort. Er sieht aus wie 50, er mit einer rieseigen Glatze u. Künstlerallüren, Benehmen + Gewandung, samt Pullmann + Pfeife, Unsympathisch. Sogar dem Max war er unsympathisch. Er betonte auch sofort, daß er Jahrgang 12 sei, „das Jahr, in dem die 1. deutsche Theaterzeitung erschien …“ Wörtlich. Nicht zum derpacken. Daß er intelligent ist und daß er aus dem istanbuler Theatern allerhand gemacht hat, ist ohne Zweifel. Inwiefern er dramaturgisch oder als Regisseur tüchtig ist, kann ich nicht entscheiden. Die beiden Akte, die wir sahen, waren gut gespielt u. die Bühnenbilder gut. Von ihm. Er ist von einer Eitelkeit, die kaum zu überbieten ist. Einfach widerlich. Aber sie hätten wohl kaum einen besseren finden können, u. theaterbesessen ist er ja. Die Bühnen sind sehr primitiv u. die Theater – alles aus Holz(!) gebaut, Privattheater des Sultans, ehemals, – einfach köstlich. Die Sitze steigen wie in einem Hörsaal steil auf (Arena) u. teilweise Logen. Technische Einrichtung noch unvorstellbar primitiv, aber der türk. Staat zahlt jährl. 10 Mill. Schilling für diese Theater. M. ist hier eine wichtige Persönlichkeit! Ich habe mit ihm keinen Satz geredet, u. er erkannte mich auch bei der Verabschiedung nicht. – Zur Zeit sitze ich im Salon des Attachés des Gesandten v. Belgrad – Max liegt schon in der Falle nach einem guten Essen + Bad – eine große Auszeichnung, wie Max sagte, da er noch im vergangenen Jahr mit Roller schofler behandelt worden ist. Max ist abends immer sehr müde. Heute bin ich 2 Stunden gefahren bis Ankara. In der Stadt nicht, da die Türken wie die Wilden fahren. Ankara ist eine schöne u. seltsame Stadt. Auf lauter Hügeln gebaut u. Alt + Neu, d.h. Armut + Luxus (Holzmeister nicht vergessen) hausen dicht nebeneinander. Ankara ist ganz anders als Istanbul. Obwohl im Zentrum des Landes gelegen u. schon in Asien, macht es einen europ. Eindruck als Istanbul, das noch in Europa liegt.
Liebe Mimi, ich mach Schluß. Bad + ins Bett. – Daß ich nicht vergesse: Ninas reizende, liebe Zeilen, die ich hoffe bald beantworten zu können. Die nächste Seite morgen, Liebste.

I H D S S L Dein Helmut

Lo + Mo + d. Kindern liebe Grüße!